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Carl Kirchhoff, gen. „Karlchen“, ein Neusser Original?
Die jüngeren Leute in Neuss haben den Namen vielleicht schon einmal aus Erzählungen der älteren Generation herausgehört.
Wobei sich selbst deren Erinnerungen an Carl wohl in erster Linie darauf beschränken, dass er jahrelang mit seinem Tambourstock vor dem Schützenzug hergezogen ist.
Ich –und noch einige wenige- haben Carl jedoch auch zwischen den Schützenfesten gekannt.
Nicht weit von meiner Heimat, dem Stut, wurde Carl 1922 auf der Freiheitstraße geboren, wo er bis auf seine letzten Jahre, sein gesamtes Leben verbracht hat. Er ist mit meiner Mutter zusammen eingeschult worden, allerdings kann ich nicht sagen, wie lange sein Schulbesuch angedauert hat.
Carls Eltern betrieben auf der Freiheitstraße einige Jahre einen Privatverkauf für Kaffee, sodass wir Kinder von den Eltern oft dorthin geschickt wurden, eben um Kaffee für die Familie zu kaufen.
Die Kirchhoffs und somit auch Carl, wohnten auf der ersten Etage. Wenn man dorthin kam, wurde man zunächst einmal an den Küchentisch gesetzt und „ausgefragt“. Das ist nicht negativ zu sehen, sondern es war damals halt die typische Art und Weise, etwas über die erweiterte Nachbarschaft zu erfahren. Man kannte sich schließlich und interessierte sich füreinander.
So kam es, dass wir Carl ebenfalls näher kennenlernten.
Für einige Menschen damals, war er Objekt für teilweise makabre Späße, die ihn des Öfteren in große Wut versetzten. Für sie stellte er ein billiges Vergnügen dar, ohne dass sie jemals bemerkten, dass ihre Dummheit im Grunde viel größer war, als die vermeintliche Kleingeistigkeit ihres Opfers.
Wir Kinder damals sahen Carl mit ganz anderen Augen, als ihn viele Erwachsene gesehen haben.
Für uns war er jemand, den wir ansprechen konnten, der sich mit uns unterhalten hat und der so anders war, als viele Erwachsene, die uns nur als Kinder, weniger als Gesprächspartner sahen.
Mit Carl konnten wir reden und Spaß haben.
Und selbst wenn er mit seinem mit Gemüse beladenen Handkarren durch die Gegend zog, blieb immer noch genug Zeit für ein paar hin und her gerufene Bemerkungen, für ein Lachen oder ein kleines Schwätzchen.
So, wie es früher üblich war, sprach man Nüsser Platt miteinander und ich kann mich nicht erinnern, dass Carl jemals Hochdeutsch gesprochen hätte. Während einige Erwachsene ihn (leider) als „geistig zurückgeblieben“ betrachteten, war er für uns Kinder jemand, der uns so wichtig nahm, wie wir ihn. Carl, groß, schlaksig und immer etwas ungelenk wirkend, wusste jedoch genau, wer ihn ernst nahm und wer nicht.
Für diejenigen, die ihn nur als armen Teufel betrachteten, hatte er nicht viel übrig.
„Isch weeß jenau, dat die mesch für bekloppt halde. Esu bekloppt bön isch jo nu och widder net.“
War er auch nicht.
Carl war kindlich naiv. Jemand, der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bewegte und sich sein Leben in diesen Grenzen eingerichtet hatte. Er wusste, dass er nicht mehr war als das, was er nun einmal war. Mehr wollte er auch nie sein.
Und wenn das jemand nicht verstehen wollte, konnte er böse werden. Mit diesen Menschen hat er nie wieder ein Wort gewechselt.
Seine große Leidenschaft aber, die sein Leben zum großen Teil mit bestimmte, waren die Schützenfeste unserer Stadt.
Ich weiß nicht, ob er jemals versucht hat selbst Mitglied in einem Zug zu werden. Vorstellen kann ich mir das schon. Ebenso gut kann ich mir vorstellen, dass es vergebliche Mühe waren, da er niemals in den Reihen eines Zuges mit marschiert ist.
Also schuf er sich, wie er es bereits so oft tun musste, nun auch seine eigene Schützenwelt, die sich nicht nur auf „Nüsser Kermes“ beschränkte.
Carl, gekleidet in seinen besten Anzug und angetan mit einer Grenadiermütze, zog seit Beginn der fünfziger Jahre, seinen Tambourstock im Takt der hinter ihm ziehenden Tambour- und Musikchors bewegend, fast allen Schützenzügen im Stadtgebiet voran.
Immer gerne gesehen von den Zuschauern an den Straßen und über die gesamte Zugstrecke mit fast mehr Applaus begleitet, als der jeweilige Schützenkönig selbst.
Er war so etwas wie der gute Bote, der den Menschen die Nachricht überbrachte, dass in wenigen Augenblicken etwas ganz Besonderes auf sie zukommen würde. Ein Verkünder der frohen Botschaft, die da lautete:
„Dr Zoch kütt!“
So zog er jahrein, jahraus, beginnend zu Pfingsten auf der Neusser Furth, den jeweiligen Schützenzügen voran. Wer ihn noch leibhaftig erlebt hat, wird bestätigen können, dass er darin eine Art Berufung, fast eine Mission sah, die ihn über und über mit Stolz erfüllte.
Und nicht nur er hatte daran seine Freude, sondern vor allem auch tausende Menschen am jeweiligen Zugweg.
„Wenn Karlsche kütt, es dr Zoch net mie wiet!“
So lautete die freudige Erkenntnis, die man lange Jahre mit seinem Anblick verband. Carl gehörte zum Schützenzug, wie die Kanone zur Artillerie.
Umso unverständlicher erscheint es heute, dass ihm von einigen Offiziellen des Neusser Schützenfestes Anfang oder Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verboten wurde, gerade auf „Nüsser Kermes“ voran zu marschieren!
„Bei denne mach isch net mie möt!“, höre ich ihn noch sagen, als wir uns damals, Pfingstsonntag vor der Parade, auf der Kaarster Straße trafen. „Die wolle misch net mie dobei han!“
Carl war nicht nur traurig deswegen, das Verbot bedeutete viel mehr: Für ihn war ein Stück seines Lebens weggebrochen. In seinen Augen versagte man ihm die Anerkennung der Menschen in der Stadt, die ihm zu „Nüsser Kermes“ applaudierten und zujubelten.
Die wenigen Augenblicke in seinem Leben, die er mit dem Bewusstsein erleben durfte, jemand zu sein, den die Menschen für das liebten was er tat, waren ihm genommen worden.
Mochten es verschiedene Verantwortliche in Neuss auch mit einem Achselzucken abtun, dass Carl „Nüsser Kermes“ nicht mehr vorweg marschierte, letztendlich haben sie ihm ein großes Stück seines Lebens gestohlen.
Wir, die wir zu dieser Zeit bereits halbwegs erwachsen waren und ihn kannten, haben ihn deshalb sehr gut verstanden.
Er zog zwar immer noch den Schützenzügen verschiedener Stadtteile voran, zum Großereignis Neusser Schützenfest, am letzten Wochenende im August jedoch, hat man ihn nie wieder gesehen. Wie es ihm in seinen letzten Lebensjahren ergangen ist, davon kann ich leider nichts berichten.
Irgendwann verstarben seine Eltern und Carl fand sein neues Zuhause in den Alexianer Kliniken.
Am 19. September 1985 ist Carl Kirchhoff dort verstorben.
Ich hoffe und wünsche, dass er friedlich eingeschlafen ist.
Mit sich im Reinen war er ganz sicher.
Mit den Offiziellen des Neusser Schützenfestes wohl nicht.
Er konnte es übrigens nicht ausstehen, wenn man ihn „Karlchen“ rief.
Autor: Peter Bunt